In Prag

Er steht auf dem Heumarkt bei den tschechischen Musikanten. Seine Augen sind schwarz bemalt und er hat einen vergilbten Presseausweis umhängen. Zwischen seinem grau-schwarzen Haarkranz denkt man zuerst, er trägt eine Sonnenbrille. Aber es ist Farbe, schwarz wie Ofenwichse, die seine Augen vollständig umkleidet.

Unter seiner schmuddeligen und vielschichtigen Kleidung zeichnet sich Fettgebirge um Fettgebirge ab, in mehreren Schichten, die eine Terasse zu seinen unförmigen Beinen formen. Sie stecken in viel zu engen Jeans, die ihm das Blut abgeschnürt hätten, wenn sie nicht vollkommen zerissen und ausgeleiert wären.

Es ist neun Uhr morgens. Unter den ekstatischen Statuen schaut er auf den weniger eksatischen dienstäglichen Heumarkt. Unbeweglich, er könnte schon Stunden so dastehen. Als gehörte er zu der Skulpturengruppe über ihm. Wilde Musikanten, mit verbunden Augen blasen und streichen sie ihre Instrumente. Er steht dabei, um zu zeigen, dass man ihren Veitstanz auch heute noch tanzen kann.

Ich versuche im Vorübergehen herauszufinden, was sonst noch alles um seinen Hals hängt. Ein Haufen eigentümlicher Knollen, es könnten zusammengeknotete Stofffetzen sein oder Knoblauchzehen, eine Kette aus großen Holzperlen, undefinierbare Fäden. Bevor ich alles idenzifiziert habe, bin ich schon an ihm vorbei.

Genausogut hätte ich an dem Bewohner eines fremden Planeten vorbeigehen können. Unsere Sphären sind nicht zu verbinden. Solschenizyn hat diesbezüglich einmal eine Wahrheit ausgesprochen, die so nah am Ewigen ist, wie man ihm auf dieser Welt noch kommen kann: Jeder Mensch ist ein Universum.

Manchmal brauche ich einen Ausnahmemenschen wie diesen rätselhaften Obdachlosen, der an einem wolkenlosen Aprilmorgen ins Leere schaut, um mich daran zu erinnern.

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