Murakamis Axt

In einer Geschichte von Haruki Murakami fällt eine Axt aus dem blauen Himmel, ohne Vorwarnung.

Die Axt spaltet das Buch. Zunächst einmal spaltet der Satz über die Axt, die vom Himmel fiel, den Zusammenhalt des Sinns der übrigen Sätze. Sein Inhalt wird weder vorausgedeutet noch erinnert. Während die übrigen Sätze eine zusammenhängende Geschichte erzählen, steht diese eine Information isoliert. Im hermeneutischen Gefüge waltet eine Kluft.

So zumindest erinnere ich es. Höchstwahrscheinlich ist Murakamis „Kafka am Strand“ anders abgelaufen. Doch ich habe die Tendenz, Bücher, die ich nicht gelesen habe, falsch wiederzugeben. Aber egal, ob diese Szene nun so im Buch vorkommt oder nicht, sie stellt eine kompositionstheoretische Herausforderung dar (es ist für diese Frage vollkommen egal, ob sie geschrieben wurde oder nicht. Alles, was wichtig ist, dass man so hätte schreiben können).

Ein großer Autor würde diese Trennung rein gestalten, d. h. er würde wirklich dafür sorgen, dass die Sätze oder der Satz über die Axt von den übrigen Sätzen nicht kontaminiert werden und umgekehrt. Er würde sie zu einem spiegelglatten Stück Stahl zusammenschweißen, dass das Papier seiner Geschichte durchschneidet. Das ist der erste Sinn der Spaltung; ein Fremdkörper mischt sich in den Text ein, ohne mit ihm zu tun zu haben. Er spaltet das Geflecht der Geschichte wie die sprichwörtliche Axt, die er ist.  

Diese horizontale Spaltung im Verlauf des Buches lässt sich leicht fügen. Drei Sätze sind unter den tausenden, die das Ganze ausmachen, schnell vergessen. Sie reihen sich ein, obwohl sie sich eben nicht einreihen lassen sollten, denn auch sie sind nur Sätze unter Sätzen, Äußerungen der Willkür ihres Autors.

So erinnert sich nämlich der Leser an die Axt, die vom Himmel fiel und an der Geschichte eigentlich nichts veränderte: als eine willkürliche Tat des Autors. Allein, dass er sich auf diese Weise an sie erinnert, verändert alles. Denn, um das Ganze des Werkes im Blick zu behalten, muss er die zusätzliche Information in dieses Ganze integrieren. Die Idee, dass das Buch ein einheitliches Ganzes in diesem oder jenen Sinne darstellt, verleitet nun dazu, die hermeneutische Kluft, die die Axt in dieses Ganze treibt, als Teil dieses Ganzen mitzudenken. Die Ordnung der Geschichte, also der naiv aufgenommenen Schilderung von Ereignissen, wird zugunsten der Ordnung des Werks verlassen. Die Axt, die vom Himmel fällt, ist aufgrund ihrer Isolation im Text nur als Tat des Autors zu verstehen. Es muss ein willkürlicher, noch in seiner Wllkür überlegter Akt gewesen sein, der sie in das Ganze eingefügt hat. Ein Akt, der nicht wie andere durch den Interpreten extrapoliert werden muss und dem man in Ermangelung eindeutiger Zeugnisse immer auch die Möglichkeit zusprechen muss, zufällig gewesen zu sein. Nein, es handelt sich um eine Tat, die als Tat des Autors in den Text eingeht.

Der Vergleich mit einem Gemälde bietet sich an. Man stelle sich vor, ein Maler hätte in der Mitte einer bukolischen Szene im Stil des späten 19. Jahrhunderts einen türkisblauen Punkt Farbe plaziert. Der Punkt ist nicht einfach ein dorthingeworfener Klecks, dem man Zufälligkeit vorwerfen könnte, sondern es handelt sich um einen sauber gemalten Kreis inmitten des Gemäldes. Ganz unabhängig davon, dass man das übrige Gemälde einfach naturalistisch verstehen und naiv und gegenwärtig begutachten kann, so als wären sie alle Realität, sticht der Kreis als ein Element heraus, dass all dieser Realität radikal wiederspricht. Es war es eine bewusste Entscheidung des Malers, diesen Bruch herbeizuführen. Ein Bewusstsein, dass sich nicht hinter der Logik der Sache verstecken kann; etwa im Sinne von: Ein Baum muss eben im Allgemeinen diese und jene Gestalt haben, etc.

Dieser Akt zerreißt das Kunstwerk auch vertikal. Nicht nur sind die Teile der Geschichte oder des Bildes räumlich voneinander getrennt. Zudem ist der Schleier der Mimesis, der für einen Moment Abbild und Realität vertauschte, zerrissen. Der Schriftsteller hat die Axt in das Bild geworfen, das seine übrigen Worte zeichneten. Es ist ihm zudem gelungen, diesen Akt selbst kunstfertig zu gestalten. Er hat die vierte Wand nicht mit Blut, Effekt und Schmierereien, sondern mit einer klaren Form durchbrochen. Das Kunstwerk behält seine formelle Einheit als Gespaltenes.

Es ist meine Vermutung, dass es eine Bemühung der Kunst der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein wird, den Bruch der Willkür, die diesen doppelten Boden in unser Kunstverständnis einzog, den man mit einem flachen Wort „Postmoderne“ nennt, immer präziser zu gestalten. Die Axt Murakamis wird die Form einer willkürlichen Gewalttat ablegen und stattdessen ein hoch kultiviertes, feinsinnig konstruiertes Stilmittel werden.

Wir werden uns in der Kunst üben, den Schleier der Illusionen zu lüften, die wir selbst geschaffen haben. Langsam aber sicher wird uns darüber das Bewusstsein wachsen, dass noch diese Offenbarung ein Schein ist, den es zu gestalten gilt. Nachdem wir eine Weile die Luftlosigkeit des sinnlosen Vakuums geatmet haben, entpuppt sie sich als ein weiteres Meer aus Geschichten, die es zu erzählen gilt.

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