Performative Literatur

Das Buch fliegt aus dem Fenster. Auf dem Cover hat Marina Abramovic einen Skorpion auf ihrem Gesicht. Ihre weit aufgerissenen Augen flattern durch die Luft, bevor sie auf das Pflaster klatschen. Ein verwunderter Mittvierziger blickt von seinem Smartphone auf. Seine Augen finden zuerst die Memoiren der berühmten Performancekünstlerin, dann das Fenster, aus dem das Buch in den Mittsommertag geflogen sein muss: In seiner Öffnung sieht er nur die Buchreihen der philosophischen Bibliothek. Mich sieht er nicht. Ich sitze, von seinem Blick verborgen, unter den Augen vergangener Geistesgrößen. Ich hatte gerade eine Idee. Eine Idee, die mich dazu bringt, bei helllichtem Tag Bücher aus dem Fenster zu schmeißen.

Die Idee, wie viele Ideen, befindet sich zunächst einmal im Zustand einer Frage: Wie wäre es eigentlich, performative Literatur zu schreiben? Also Literatur, die an Handlungen in der echten Welt geknüpft ist. Literatur, die etwas verändert und sei es nur, was ich morgen zum Frühstück esse. Schreiben als Event. Geschichten, die im Voraus erzählen, was ein Mensch tun und versuchen wird, überlagert oder ergänzt mit Berichten von dem, was tatsächlich geschah. Lebensexperimente, literarisch dokumentiert.

Doch wie sähe eine solche Performance-Literatur aus? In einer berühmten Performance aus dem Jahr 1971 hat Abramovic den Besuchern einer Ausstellung in Neapel die Möglichkeit gegeben, für eine begrenzte Zeit mit ihr und den im Raum verfügbaren Instrumenten zu machen, was sie wollten. Unter diesen Gegenständen befanden sich eine Rose, Lippenstift und eine Schere, aber auch Messer und ein Revolver nebst Kugel. Die schrittweise Eskalation dessen, was die Museumsbesucher Abramovic antaten, stellte eine beispielslose Erkundung der menschlichen Psyche dar. Ähnlich wie Marina Abramovic ihren eigenen Körper und das Publikum, das mit ihm interagiert, zum Gegenstand ihrer Kunst gemacht hat, könnten Performance-Autor:innen die Konsequenzen ihrer Texte zu einem Teil ihres Schreibens machen.

So könnte man beispielsweise ein Tagebuch schreiben, das auf einen Tag im Voraus datiert ist. Ein Tagebuch der Zukunft sozusagen. Darin plant man, erzählt mögliche Geschichten, schreibt einen Ablauf vor, dem minutiös zu folgen ist, kurz, man entwirft sich in seine eigene Zukunft hinein und am nächsten Tag löst man diesen Entwurf ein – oder eben auch nicht. Was tatsächlich geschieht, wird am nächsten Tag berichtet, knapp und sachlich. Das Ganze geschieht öffentlich, etwa auf einem Blog. Das Kunstwerk sind nicht allein die Texte, die der Autor imaginiert, sondern auch die Weise, wie sich sein Leben durch die Entwürfe verwandelt.

Ein anderes Beispel: Zwei Freunde beschließen, einander Geschichten zu schreiben, von denen sie sich vorstellen, dass der andere sie erlebt haben könnte. Sie verfolgen das Projekt über einige Jahre und die Texte, die sie einander schreiben, bilden Wegmarken einer Freundschaft, Anstöße und Wendepunkte ihrer gemeinsamen Entwicklung. Vielleicht veröffentlichen Sie die Geschichten eines Tages, vielleicht halten Sie sie privat. Sie verwenden jedenfalls ihre literarische Phantasie, um das Leben des Anderen genauso wie ihr Eigenes zu bereichern.

Das Kerngedanke performativer Literatur ist es also, die gestalterische Kraft der Erzählung dem Leben, das sie erzählt, zurückzugeben. Performative Geschichten wären nicht einfach nur Geschichten, sie wären mit dem Leben derer, die sie schreiben, verknüpft. Das wäre dann auch das Prinzip performativer Literatur: Schreibe so, dass dein Schreiben das Angebot einer Handlung enthält oder selbst bereits eine Handlung darstellt. Jedes Wort sollte mit einer zumindest möglichen Tat verknüpft sein. Diese Verknüpfung bedeutete vor allem eins: Die von kulturbesessenen Feuilletonisten gern beschworene transformative Kraft der Literatur würde tatsächlich einmal erprobt.

Das würde auch den verschlafenen Literaturbetrieb unserer Tage neu beleben. Dessen Malaise besteht in der Einfallslosigkeit seiner Formate. Die meisten Literaturveranstaltungen sind ein Tummelplatz für Mittfünfziger im Frühruhestand, die sich bei Sekt und Brezeln von der Stimme hoffnungsfroher Nachwuchsautor:innen in den Schlaf säuseln lassen. Den Höhepunkt literarischer Sensation bilden die kurzlebigen Texte von Poetry-Slammern, die im Rauch von Berliner Hipsterkneipen verdampfen. Was, wenn wir stattdessen Texte hätten, die davon erzählen, wie Menschen am 06.01.2023 vor dem Reichstagsgebäude eine lebendige Pyramide zu bilden und ihren Lesern die Möglichkeit offen lassen, diese selbst zu verwirklichen? Was wäre, wenn sich Protestbewegungen auf diese Weise organisieren ließen? Was, wenn Menschen ihren Wunsch nach einem besseren Leben auf eine spielerische Weise in kreativen Texten erproben könnten? Dann wäre Literatur vielleicht mal wieder spannend. Dann hätten Worte uns noch ein wenig mehr zu sagen, als sie es ohnehin schon tun.

Ich für meinen Teil habe damit begonnen, ein Tagebuch meiner Zukunft zu führen. Der erste Eintrag lautete am 21.August 2022: Ich werfe das Buch aus dem Fenster. Heute schreibe ich meinen zweiten Eintrag: Morgen schreibe ich weiter.

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